Feierlich ausgespuckt

von Dominique Merz, Vantera. Was ich den frisch gebackenen Doktoren, Masters und Bachelors der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Basel anlässlich ihrer Abschlussfeier zu sagen hatte:

Was für ein Tag! Liebe Diplomanden. Was für ein Tag! Es ist Ihr Tag. Ihr Erfolgstag. Ihr Freudentag. Ihr Feiertag. Für den Rest von uns ist es ein wunderschöner, weil freier, blauer, Freitag. 

Herzliche Gratulation. Sie haben sich weit gebracht. Wir Alten sind sehr stolz auf Sie. Merci den Dekanen, Prof. Sheldon und Prof. Kugler für die Einladung, hier etwas zu sagen.

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“Dominique Merz.”

„FRAU oder MANN?“ bellt der Hayek in den Hörer.

„Mann!“  antworte ich.

„UNTERNEHMER oder MANAGER?“ brüllt er.

„Unternehmer!“ brüll ich zurück.

„Gut für Sie!“ sagt Hayek leise und hängt auf. 

Das waren meine sieben Sekunden im Leben des alten Mr. Swatch. Wellen und Schwärmen ist es egal, ob Frau oder Mann, Unternehmer oder Manager wird. Wellen und Schwärme möchte ich Ihnen heute näher bringen.

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Es geschah im letzten Jahrhundert. In einer Teepause am Institut. Heiner Ursprung war Assistent bei Professor Bernholz und schrieb an seiner Chaostheorie. Er versuchte, mir Unstetigkeiten — angeblich sprunghafte Veränderungen in dynamischen Systemen — zu erklären. Heiner’s Idee, dass ein Schmetterling in Brasilien den Zibelimärit in Bern mit EINEM Flügelschlag aus dem Gleichgewicht werfen könnte, fand ich absurd. Stetige Kurven, marginale Veränderungen, Gleichgewichte, und wenn es ganz bös kommt, ein Ungleichgewicht — DAS war Ökonomie für mich! 

„Linie müssen Ökonomen haben, Heiner, stetige Linie!  Da verlor der Ursprung seine Geduld: „Von einem Schwachkopf, der die dritte von einer zweiten Ableitung nicht differenzieren kann, lass ich mich nicht BELEHREN!“ Verärgert stürmte Heiner aus der Teepause und blieb tagelang vermisst. Endlich kam er wieder zum Tee. Mit einem Modell aus Holz. Gelassen stellte Heiner das Ding vor mich auf den Tisch und begann ganz ruhig, ganz langsam, fast zärtlich am Holzrad zu drehen. Das Gummiband spannte sich, das konnte man deutlich sehen, stetig und — PATSCH! — klatschte ein Teebeutel tropfnass auf meine Stirn. Da war es mit dem Gleichgewicht von Bern vorbei. 

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Heiner wurde Professor, ich Surffotograf. Meist in Wellen vor Hawaii; meist auf Riffen mit so gemütlichen Namen wie Jaws, Avalanche, Mavericks, Phantom, Pipeline, Boneyard, Graveyard und Ghosts: “Schwimm dort hinaus, Merz, und fotografier uns allein den Weltmeister! Und vergiss nie: Du bist immer nur so gut wie Dein letzter Schuss. Überrasch uns!“ Das war mein Job. Kurzsichtig wie ich bin, schwamm ich dort hinaus. Die Strömung, die das eingebrachte Wasser aus jeder Bucht heraus führt, treibt Dich schnell an der tosenden Brandung vorbei. Versuche nie gegen die Strömung zu schwimmen, Du schaffst es nicht! Lass Dich einfach hinaus treiben. Denn hinter der Brandung, verliert sich die Strömung. Die Wellenreiter sammeln sich dort und warten in Ruhe auf die grössten Wellen der Welt. Meist geht es gut. Manchmal auch nicht. Wenn Dich eine Welle haushoch erwischt, wenn Dich der Brecher tief hinunter ins dunkle Chaos wirft, wenn Du Dich schützend zum Fötus rollst, wenn Dich das Riff scheuert und schindet, wenn Deine Luft ging — ging— ging — und Deine Angst kommt, dann geht im Dunkeln plötzlich das Licht auf:

„LEBEN misst sich nicht an der Anzahl Atemzüge, die DU NIMMST, sondern an den Momenten, die DIR den Atem NEHMEN!

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Dies > ist mein letztes Foto von Monte Valentine, einem Wellenreiter und Freund. Er hatte am Ende Unglück im Glück. Er starb in der Wedge — im Keil der berüchtigten Welle vor Newport Beach in Kalifornien. Monte war so frei wie radikal: Gab es Wellen, nahm er die. Gab es Arbeit, nahm er sie. 

Mein Vater hatte EINEN Arbeitgeber und eine Karriere und verliess Basel nie. Monte hatte viele Jobs und keine Karriere und flog um die Welt. Monte war ein sehr gesuchter und hochbezahlter Informatiker. 

Professor Reich an der UC Berkeley, einst Arbeitsminister unter Präsident Clinton, muss es wissen: “Ja, unsere Väter hatten eine Karriere und typischerweise einen Arbeitgeber. Wir bereits zehn, doch die nächste Generation wird im Durchschnitt achtzehn und mehr Jobs im Laufe ihres Lebens halten!” 18 und mehr Jobs?! 

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Vom Schock nur kurz zum Schwarm. Ein Schwarm sei viel intelligenter als die Summe seiner Teile, erklären Schwarmforscher. Das hatte ich noch halber befürchtet. Also tauchte ich unter. Zur Sicherheit — man kann ja nie wissen — trat ich vorher rasch der Vereinigung Basler Ökonomen bei. Frei tauchend kann man vor Molokini und in der Honolua Bay einzelne Fische und ganze Schwärme sehen. Nahen Räuber, schwimmen die vereinzelten Fische — Unternehmer — gelassen weiter. Der Schwarm hingegen ballt sich zusammen. Haie und Tunas schwimmen durch den Fischball und beissen zu. Nach jedem Bissen formiert sich der dezimierte Fischball aber blitzschnell wieder. Wieder und wieder. Bis er aufgefressen ist. „Gemetzel“ nennen verängstigte Arbeitnehmer solche Economies of Scale nach Fusionen oder Akquisitionen von Unternehmen.

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Schwärmer beobachten auch gern Star-Kolonien im Himmel und auf Hollywood. Jeder Star sei von sechs Nachbarn angezogen. Dabei halte jeder Star seine sechs Nachbarn auf gleicher Distanz. Man respektiere sich, kollidiere nie. 

Reisst ein Star aus, folgt ihr der ganze Schwarm. Reissen viele zugleich aus, weiss der Schwarm aber nicht, wem er folgen soll. Einmal führt die. Einmal führt der. Gerade führt niemand. Es ist wie im Bundesrat. Auf Youtube kann man die faszinierten Oszillationen solcher Vögel sehen. 

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Selbst Engel fliegen lieber im Schwarm. 1997 wanderte meine Familie einmal mehr nach Kalifornien aus. Dort haben mich zweihundertfünfzig Business Angels — eine Art Geburtshelfer für Jungunternehmen — unter ihre Fittiche genommen. Zusammen investieren wir in technologische Start-Ups; vom Silicon Valley runter bis nach San Diego. Jeder trägt sein Kapitalrisiko selbst. Als fremder Fötzel oder Engel Putte aus der Schweiz lege ich nur dann mit an, wenn meine sechs Erzengel — zu denen ich ergeben hinauf schaue — auch investieren: der Ingenieur von Caltech, der Chemiker vom MIT, die MBA von Harvard, das VC von Stanford, der Nobelpreisträger von Berkeley (übrigens ein gottbegnadeter Wellenreiter!) und Drop-out Ed, der stinkreiche Lastwagenfahrer ohne jeglichen Schulabschluss, aus Minnesota. 

Nach 15 Jahren Schwarmintelligenz und knapp 100 Start-Ups sind die Investitionserträge für unsere ganze Band of Tech Coast Angels — ERBÄRMLICH! Beschämend. Mies. Und trotzdem investieren zweihundertfünfzig mehr oder weniger gebildete, gestandene Unternehmer munter weiter. Bis einem die Chips zum Spielen ausgehen. Dann geht er nach Hause. So wie ich.

Die angeblich dumme Gans macht es vielleicht gar nicht so dumm:  die folgt — im Windschatten fliegend und zur Sicherheit versetzt — der Gans vor ihr nach. Folgt ihr schnurstracks bis zum nächsten Futterplatz. Folgen. Futtern. Baden. Ruhen. Folgen. Folgen, so wie Apple seinem Alpha-Tier Steven Jobs gefolgt ist. Der verstorbene Gründer von Apple aber beschwor die Stanford Class of 2005:

⎯   Stay HUNGRY!

⎯   Stay FOOLISH!

⎯   Stay HUNGRY!

⎯   Stay FOOLISH!

 

wiederholte er am Ende seiner Abschiedsrede an die frischgebackenen Bachelors, Masters und Doktoren — an SIE!

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Wir in der Schweiz haben mit Abstand die höchsten Löhne der Welt. Wir in der Schweiz haben die tiefste Arbeitslosigkeit der Welt. Wir in der Schweiz haben die geringste Abwanderung von Akademikern der Welt. Wir in der Schweiz arbeiten 500 Stunden weniger pro Jahr, als die Fleissigsten der Welt, die? — Mexikaner! Wir in der Schweiz geniessen die längsten Ferien der Welt. 4x länger als die? — Mexikaner! Wir in der Schweiz sind pro Kopf fast doppelt so vermögend wie die Zweitreichsten der Welt, die? — Amerikaner! Wir in der Schweiz geben pro Kopf 2.5 Mal soviel für private Versicherungen aus, wie die Zweitängstlichsten der Welt, die? — Österreicher!  Wir in der Schweiz leiden halt gern auf höchstem Niveau unter dem Föhn, dem Neid und der Häme.

NATÜRLICH können Sie nach Ihrem Studium in der Komfortzone bleiben. PRIMA im Hotel Mama leben. SICHER vom City Beach aus winken. In Splendid Isolation sogar ein grosser Fisch im kleinen Basel werden. 

Splendid Isolation!? Die Geschichte lehrt uns, sich nicht auf seinen insularen Besitzstand zu verlassen. 

Stellen Sie sich vor, Heiner Ursprung’s Katapult unter Ihrem Stuhl  schleudert SIE JETZT — samt Sitz— fünf Meter in die Höhe! Bleiben Sie sitzen, stürzen Sie ab. Springen Sie auf, meistern Sie den Fall. Zum Take off brauchen Sie alles: Reflex, Können, Souplesse, Mut, Intensität und vollen Einsatz. Geben Sie beim Wellenreiten immer Ihr Bestes. Nix da von Life/Work Balance — eine Schweizer Erfindung, die nicht nur den Mexikanern und Amerikanern fremd bleibt.

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„Pioneers get shot!“ warnte mich der Paiute Indianer lakonisch. Seien Sie nicht der erste Unternehmer in einem neuen Markt. Treten Sie nicht die erstbeste Stelle an. Packen Sie nie die erste Welle. Wellen rollen in Sätzen von normalverteilten Sieben an. Die erste Welle kommt kleiner als die zweite und bricht darum näher am Strand. Die vierte Welle ist die Höchste und bricht weiter draussen über dem Riff. Der siebten Welle folgt regelmässig ein Flaute, quasi eine Konjunkturflaute. Im hawaiianischen Set von Sieben bricht nach genau 18 Sekunden die nächste Welle. Packen Sie nun die Erstbeste und stürzen auf dieser ab, werden Sie alle sieben Gelegenheiten HOCH OBEN verpassen und TIEF UNTEN zwei wirklich atemraubende Minuten erleben. Tauchen Sie endlich gescheuert wieder auf, ist der Spass vorbei. Die Konkurrenz ritt Ihnen davon. 

Lassen Sie sich NIE ENTMUTIGEN. Die Vergangenheit können Sie sowenigbeeinflussen wie exogene Faktoren: Wellen kommen und gehen. Gelegenheiten — Ihre 18 Jobs und Kunden — kommen und gehen. Erfolge kommen und Niederlagen gehen. Die Zukunft kommt und geht. Auch ohne uns. Auch ohne Sie. Bleiben Sie gelassen:

Don’t panic!

—   Go with the flow!

—   Take off!

—   Ride giant waves!

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Liebe Diplomanden! Sie sitzen heute zuoberst auf der Welle. Dies IST eineSprungstelle im Ursprünglichen Sinn. Hier BRICHT die harmonische Bildungswelle förmlich ab und SPUCKT Sie feierlich aus. Heute dreht sich alles um Sie — Und ab morgen drehen Sie sich selbst um Ihre 18 nächsten Jobs oder Kunden. Sie können sich drehen, wie Sie wollen: Ihre Konkurrenz wächst! Denn heute gibt es bereits doppelt soviele Menschen wie zur Zeit meiner Geburt und fast vier Mal soviele Absolventen an unserer Fakultät wie am Ende meines Studiums. Nun haben Ihre Freunde und Feinde die gleiche Ökonomie studiert und die gleiche Berufserfahrung hinter sich, wie Sie. Sie sind austauschbar. Das passt den Arbeitgebern, nicht aber Ihnen. 

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ABERTAUSENDE von Dossiers von Kandidaten für oberste Führungspositionen habe ich in den letzten Monaten gesichtet. Gesichtet, selten gelesen. Jeden Lebenslauf nicht länger als sieben Hayek-Sekunden gesichtet. Lebensläufe so oberflächlich gesichtet, wie Headhunter Lebensläufe eben sichten. 

Dabei kommen Sie noch gut weg: Werbeplakate werden im Durchschnitt 2.4 Sekunden lang gesehen, Kunstwerke in Ausstellungen 3.5 Sekunden lang ‚studiert’.

Die Sichtung der fünftausend Lebensläufe hat mich überrascht: Währendem sich Arbeitgeber im Konkurrenzkampf wie Produkte differenzieren, nivellieren sich die Arbeitnehmer. Die Kandidaten schmeicheln mit ihren immer gleichen, allerbesten Eigenschaften: organisierte, flexible, kompetente, führungsstarke, produktive, sehr dynamische Persönlichkeit...   

Stop! Stop! Stop!

Verkehrt man jedes Adjektiv in sein Gegenteil, wird dieser Unsinn klar: Als desorganisierter, unflexibler, inkompetenter, führungsschwacher, unproduktiver und fauler Hund bin ich Ihr idealer Geschäftsführer! Adjektive SCHWÄCHEN! Superlative SCHWÄCHEN! Worthülsen SCHWÄCHEN! Machen–Sie-sich-nicht–mit-Ihren-tausend-besten-Eigenschaften-STUMPF!

Me too ist notwendig, nicht hinreichend. Was können Sie tun? Profilieren Sie sich SPITZ! Zeigen Sie dem Hai-Ek Ihre Zähne. Weniger ist mehr. Weniger ich — mehr Du. Weniger ich — mehr Du. 

Schreiben Sie im Lebenslauf WENIG über Ihre Ausbildung und WENIG über Ihre Erfahrung. Schreiben Sie VIEL über die Vorteile, die das Unternehmen haben wird, wenn der Personalchef Sie JETZT einstellt. Für den Personalchef zählt Ihr Profil. Ihr Profil muss SEIN Anforderungsprofil decken. Nur so passen Sie in seine Organisation. Ihr Profil ist zwingend. Punkt. Für das Unternehmen zählt Ihre Leistung. Es geht um SEINE Zukunft, nicht um IHRE Vergangenheit. Ihr Versprechen sei Produktivität. Versprechen Sie zum Beispiel: „Als Ökonom verbessere ich Ihr Geschäft.“ „Als Fotograf verbessere ich Ihr Image.“ 

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Liebe Absolventen! Gestern haben Sie sich entpuppt. Heute entfalten Sie sich. Und morgen werden Sie wie Heiner’s Schmetterlinge davon flattern — im Schwarm als Angestellte oder vereinzelt als Unternehmer.

Beflügeln Sie SICH! Und Sie werden die Wirtschaft beflügeln! In Brasilien, Bern und Basel. Ehren Sie den Ursprung. Treten Sie der Vereinigung Basler Ökonomen bei. Die kostet Sie wenig und bringt Ihnen viel — Schwarmintelligenz. Und vergessen Sie auf Ihrer Reise nie: Einmal führt die. Einmal führt der. Gerade führt niemand. Nehmen Sie Ihr Schicksal in die Hand:

Lead!

Follow!

Or get out of the way!

Alles Gute!